Skulpturen aus übereinander geschichteten Zeitungen. Zwei Stichworte machen sich geltend, die zunächst mit der sicht‑ und greifbaren Skulptur nichts gemein zu haben scheinen‑. Zeit und Geschichte
(aus geschichtet).
Zunächst die Zeit. Wir beschreiben sie oft als flüchtig und erleben sie als verrinnend. Der Gott der Zeit, Chronos, ist mit Flügeln und einer Sense ausgestattet, ausdrucksstarke Zeichen für das
Dahinschwinden und die Vernichtung. Geschichte als eine Abfolge von Geschehen und einzelnen Geschicken ereignet sich in der Zeit und wird gestalterisch am ehesten erfaßbar in erzählten
Geschichten, in Sprache also, deren Sätze sich in der Zeit Wort für Wort bilden und fortspinnen. Ein ursprünglich nicht an Materie gebundener Vorgang. Was aber einmal Geschichte werden wird,
findet sich heute oft in der Zeitung, festgehalten in Texten, die freilich ebenso flüchtig wie die Zeit selbst, schnell an Aktualität verlieren.
Im strengen Gegensatz zur vergehenden Zeit und zur erlebten Geschichte steht zunächst die Skulptur. Ehemals kam ihr die Aufgabe zu, den Menschen Vergängliches als unvergänglich vor Augen zu
führen, und entsprechend auf Dauer ausgerichtet war ihr Material: Bronze, Stein, hartes Holz, edles Metall. Die Kunst der Gegenwart aber, auch die Skulptur, hat sich vom Anspruch ewiger Dauer
verabschiedet und bringt eher das in den Blick, was Prozessen unterliegt. Dazu bedient sie sich der Materialien, die geeignet sind, Prozeßhaftes zu vergegenwärtigen. Die Zeitung ist ein solches
Material.
Silvia Ehrlinger baut ihre Zeitskulpturen auf, Schicht für Schicht. Das ist für die Betrachtenden ohne weiteres nachvollziehbar im Sinne sich summierender Geschichten und Zeiten. Wie und daß
Zeiten Greifbarem entgegenwachsen, läßt sich an Bäumen ablesen. Die Jahresringe bezeugen Jahr um Jahr nicht nur den Zuwachs an Zeit, sondern auch an fester Gestalt. So wäre denn die Schichtung
ein erstes Bild für das, was Körper werdend an Zeit gebunden ist.
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Dr. Ulrike Rein (gekürzter Text)